Onur Cinel, für Sie war 2023 ein Jahr der Veränderung. Nach elf Jahren haben Sie Schalke 04 verlassen, um zum FC Liefering nach Österreich zu wechseln. Wie schwer fiel Ihnen dieser Schritt?
Nicht mehr die Selbstverständlichkeit zu spüren, jederzeit Familie und Freunde sehen zu können, war am Anfang ungewöhnlich – aber das ist doch normal. Die Tatsache, dass ich mich in Salzburg und beim FC Liefering von Beginn an wohlgefühlt habe, war dabei sehr hilfreich. Generell habe ich den Reiz nach einer neuen Aufgabe verspürt, wollte unter den bestmöglichen Bedingungen arbeiten und den nächsten Schritt in meiner Karriere gehen. In den vergangenen Jahren gab es immer mal wieder Anfragen anderer Klubs, aber hier beim FC Liefering wurde ich das erste Mal richtig gepackt. Ich hatte das Gefühl, die Verantwortlichen wollen einen guten Trainer, vor allem aber auch einen guten Menschen hierherholen. Nach den Gesprächen war für mich klar: Das muss ich machen
Nicht nur Spieler, sondern auch Trainer werden in Liefering gefördert und entwickelt. Ich habe hier einen riesigen Staff zu verantworten und habe die Möglichkeit, zu lernen. Hier wird sehr fortschrittlich gearbeitet. Von der Analyse bis zur Diagnostik ist hier alles auf Bundesliga-Niveau. Für mich als Trainer gibt es keinen besseren Ort, um mich auf alles im Profibereich vorzubereiten
Was ist beim FC Liefering der größte Unterschied zu den restlichen Vereinen der Liga?
Das ist definitiv der Altersdurchschnitt unserer Mannschaft. Der liegt in den Ligaspielen bei uns häufig deutlich unter 19 Jahren – wir spielen also mehr oder weniger mit einem U19-Team in der 2. Liga. Mit Jungs, die seit wenigen Wochen und Monaten Männerfußball spielen, gegen erfahrene und physisch starke Männer anzutreten, hat einen besonderen Reiz.
Ist die individuelle Spielerentwicklung beim FC Liefering sogar wichtiger als der Team-Erfolg und die Tabelle?
Die individuelle Spielerentwicklung hat beim FC Liefering absolute Priorität. Über Spielpraxis in einem spannenden Umfeld in Österreichs zweiter Liga wollen wir Talente zu Top-Spielern entwickeln. Dass es funktionieren kann, zeigt ein Blick auf die vergangenen Jahre. Jungs wie Dominick Szoboszlai, Xaver Schlager, Konrad Laimer, Karim Adeyemi, Amadou Haidara haben alle bei Liefering den nächsten Schritt gemacht und über Red Bull Salzburg eine Weltkarriere gestartet
Wie genau werden Top-Talente in Liefering in der täglichen Arbeit gefördert?
Die Möglichkeiten hier sind sehr professionell. Wir haben viele Abteilungen mit Experten wie beispielsweise die Mental Performance. Dank dieser Manpower können wir sehr individuell mit den Jungs arbeiten. Wichtig ist uns, die Persönlichkeiten der Spieler zu stärken und sie als Individuen zu den besten Versionen zu machen, die sie sein können. Es geht also nicht darum, den nächsten Haaland, Laimer oder Szoboszlai zu formen – sondern Typen und Talente so zu fördern, wie sie sind.
Welcher Aspekt hat Sie in der Trainingsarbeit in Liefering besonders überrascht?
Wenn ich auf dem Platz zur Mannschaft spreche, sind Integrationshelfer und Übersetzer dabei – um parallel auf Englisch, Französisch und Spanisch zu übersetzen. Einer von ihnen ist beispielsweise Ratinho, der als Profi in Kaiserslautern gespielt hat. Das kannte ich von Schalke so natürlich nicht. Anfangs war es ungewohnt, doch die Kollegen erweitern meine Möglichkeiten als Trainer und sind eine große Unterstützung in der Kommunikation mit den Spielern
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Europameisterschaft im kommenden Sommer?
So langsam wird mir bewusst, dass ich tatsächlich bei der EM dabei sein werde. Die Kirsche auf der Torte wird das Spiel gegen Frankreich an meinem Geburtstag in Düsseldorf sein – also bei meiner Familie ganz um die Ecke. Mehr geht nicht. Bislang durfte ich die großen Turniere nur als Zuschauer verfolgen. Schon immer war es ein Traum von mir, mal bei einer EM oder WM dabei zu sein. Ich freue mich extrem darauf.